Prozeduralisieren

pdf (Auszug aus dem Buch „Wirksames Wissen aufbauen“)

Beim Prozeduralisieren geht es darum, ein Vorgehen in dem Sinn zu automatisieren, dass man einen Satz von Wenn-Dann-Regeln erwirbt, den man ohne gross zu überlegen jedes Mal abarbeiten kann, wenn eine entsprechende Aufgabe auftritt. Kennt man bspw. die Formel für den Satz des Pythagoras a2+b2=c2, dann kann man im Prinzip mittels des deklarativen Systems für beliebige rechtwinklige Dreiecke die Länge der dritten Seite berechnen, wenn man die Längen der beiden anderen kennt. Das ist aber aufwendig, zeitraubend und fehleranfällig. Muss man immer wieder solche Probleme lösen, dann wird man mit der Zeit dieses Wissen in geeignete Regeln umwandeln. Diese könnten etwa wie folgt aussehen:

  • Wenn es sich um eine Aufgabe in einem rechtwinkligen Dreieck mit zwei gegebenen Seiten handelt, dann die gegebenen Werte quadrieren.
  • Wenn c gesucht ist, dann die quadrierten Werte addieren.
  • Wenn a oder b gesucht ist, dann vom quadrierten Wert von c den anderen quadrierten Wert abziehen.
  • Aus dem Resultat die Wurzel ziehen.

Ein so programmierter Computer könnte jede derartige Aufgabe zügig lösen. Ebenso kann das ein Mensch ohne viel nachzudenken tun, wenn er diese Regeln verinnerlicht hat.

Damit das Prozeduralisieren, d.h. der Aufbau und die Verinnerlichung solcher Regeln funktioniert, ist allerdings entscheidend, dass die Lernenden das Vorgehen im Prinzip beherrschen. Im Beispiel bedeutet das, dass sie zwar zu Beginn des Lernvorgangs noch etwas langsam sein dürfen, weil sie die Aufgaben mittels des deklarativen Systems bearbeiten, dass sie aber in der Lage sein müssen, die Aufgaben im Prinzip richtig zu lösen und dabei auch kaum Fehler machen. Denn sonst prozeduralisieren sie unter Umständen ein völlig falsches Vorgehen. VanLehn (1990) hat dieses Problem im Zusammenhang mit dem Erlernen des schriftlichen Addierens und Subtrahierens gründlich untersucht. Er konnte eindrücklich zeigen, dass wenn Lernende bei an sich gut geübten Vorgehensweisen später plötzlich eigenartige Fehler machen, dies oft darauf zurückzuführen ist, dass die Lernenden das Vorgehen in der deklarativen Form nicht richtig verstanden hatten und als Folge davon Unsinniges einübten.

Damit das Prozeduralisieren funktionieren kann, ist allerdings nicht nur wichtig, dass die Lernenden das Verfahren beherrschen, sondern auch, dass die Übungsaufgaben tatsächlich mit diesem Verfahren lösbar sind. Denn sonst geschieht folgendes: Die Lernenden gehen während des Prozeduralisieren davon aus, dass die Aufgaben so bearbeitbar sind, wie es gelernt haben (also bspw. mit Hilfe des Satzes des Pythagoras). Haben sie dabei Schwierigkeiten, weil eine Aufgabe so nicht lösbar ist (also bspw. das Rechteck keinen rechten Winkel hat), nehmen sie nicht an, dass die Aufgabe falsch gestellt ist, sondern dass sie das Vorgehen irgendwie nicht recht verstanden haben. Typischerweise passen sie dann das Vorgehen so an, dass es nun zu funktionieren scheint und prozeduralisieren dieses veränderte, falsche Vorgehen. Es mag trivial klingen, dass man zum Prozeduralisieren Aufgaben stellt, die mit dem vermittelten Vorgehen lösbar sind. Das ist aber nicht immer so einfach, denn für die Lehrperson ist es nicht immer einfach, alles explizit zu machen, was sie sich beim Bearbeiten einer bestimmten Situation denkt. Entsprechend ist das Modell, welches sie den Lernenden bspw. beim Schritt 5 der Acht Schritte vermittelt, oft unvollständig und die Lernenden sind beim Prozeduralisieren auf gewisse Überlegungen nicht vorbereitet, welche für die Lehrperson selbstverständlich wären. VanLehn (1990) ist darüber hinaus noch aufgefallen, dass oft sogar absichtlich nicht mit dem gelernten Vorgehen lösbare Aufgaben eingebaut werden. In vielen Mathematikübungsheften ist es üblich, am Schluss der Übungsaufgaben, die sich gut für das Prozeduralisieren eignen, für die schnelleren Lerner noch ein paar Überlegungsaufgaben einzubauen, die nicht mehr nur allein mit dem gelernten Vorgehen bearbeitet werden können. Wenn die Lernenden nicht merken, dass von ihnen nun etwas anderes als Prozeduralisieren erwartet wird, werden sie versuchen, auch diese Aufgaben wie die bisherigen zu lösen, was unvorhersehbare Konsequenzen hat.

Prozeduralisieren muss also sehr sorgfältig geplant sein, damit nichts schief geht. Darüber hinaus ist Prozeduralisieren sehr aufwendig. Bis sich wirklich prozedurales Wissen, d.h. verinnerlichte Wenn-Dann-Regeln die mehr oder weniger automatisch ablaufen können, aufbaut, müssen eher 100 als 10 derselben Sorte von Aufgaben gelöst werden. Möchte man, dass Lernende gewisse Vorgehensweisen Prozeduralisieren, muss man sich gut überlegen, ob Aufwand und Ertrag zusammenstimmen.

Voraussetzungen und Schwierigkeiten beim Prozeduralisieren
- Die Lernenden müssen das zu prozeduralisierende 
  Vorgehen im Prinzip beherrschen.
- Die gestellten Aufgaben müssen sich mit dem 
  Vorgehen lösen lassen.
- Bis sich prozeduralisierte Wissen einstellt, 
  braucht es hunderte von Wiederholungen.