1. Auslöser (1971)

Mathematik war in der Schule immer eines meiner Lieblingsfächer. Ich hatte nie Schwierigkeiten dem Unterricht zu folgen und habe dann später auch Mathematik studiert (im Nebenfach). Als hilfsbereiten Menschen (mein Hauptfach im Studium war Psychologie!) baten mich deshalb meine Kolleginnen oder Kollegen oft um eine Erklärung zu einem mathematischen Thema. In den meisten Fällen waren das Fragen zu Dingen, die mir ganz einfach und klar erschienen. Ich gab mir auch Mühe, sie einfach und klar darzustellen. Aber leider waren diese Erklärungen oft nicht von Erfolg gekrönt. Die anderen verstanden nachher die Sache immer noch nicht, oder wenigstens nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte.

Vermutlich hatte ich solche Situationen bereits während meiner ganzen Schulzeit erlebt. Aber etwa ein, zwei Jahr vor Abschluss des Gymnasiums begannen sie mich richtig zu beschäftigen. Es gibt verständlicherweise keine Aufzeichnungen der damaligen Gespräche. Ähnliche lassen sich aber auch heute noch problemlos jederzeit wieder provozieren. Und die gehen dann etwa so:

  • Hans:   Du, diese Aufgabe, wo wir das Minimum ausrechnen müssen, kannst du mir erklären, wie das geht?
  • Ruedi:  Welche meinst du?
  • Hans:   Hier schau: Gesucht ist das Minimum von y = 4x2 + 3x -17.
  • Ruedi:  Aha ja. Da muss man herausfinden, für welches x das y am kleinsten ist.
  • Hans:   Gut. Und wie macht man das?
  • Ruedi:  Du musst einfach die Ableitung der Funktion nehmen und diese Null setzen.
  • Hans:   Nullsetzen?
  • Ruedi:  Ja, du musst das x suchen, für das dann das y Null wird.
  • Hans:   Und warum muss man das machen?
  • Ruedi:  Ja weist du, im Minimum geht es weder nach oben noch nach unten. Die Steigung ist dort also flach und damit Null.
  • Hans:   ??
  • Ruedi:  Kannst du dir das nicht vorstellen?
  • Hans:   Nein.
  • Ruedi:  Ja also, die Funktion sieht irgendwie so aus (zeichnet eine Parabel).

  • Hans:   So?
  • Ruedi:  Ja! Und das Minimum, das ist dann hier. Und hier ist die Steigung Null.
  • Hans:   Warum? Es geht doch auf beide Seiten hinauf?
  • Ruedi:  Schon. Aber es geht um die Tangente. Und die verläuft hier flach. …. usw.

So ein Gespräch verhedderte sich dann typischerweise in ein Gestrüpp von Erklärungen und Nebenerklärungen. Am Schluss war die Aufgabe zwar gelöst. Hans ging aber mit dem Eindruck weg, dass das Ganze sehr kompliziert sei und er wohl auch in Zukunft solche Aufgaben nicht ohne Hilfe würde lösen können. Das war frustrierend. Für mich waren zur Bewältigung einer solchen Aufgabe vielleicht zwei ganz einfache und völlig klare Grundgedanken notwendig. Ich konnte sie aber offenbar nicht weitergeben. Warum das so war und ist, hat mich dann dreissig Jahre lang beschäftigt.

Die Grundfrage der folgenden Untersuchungen und Ãœberlegungen zum Thema Lernen war also immer „Wie kann ich mit dem, was ich verstanden habe, anderen helfen etwas zu verstehen?“. Diese Frage blieb nicht ganz unverändert, sie kann aber als guter Leitfaden dienen, um die Stossrichtung mancher Ãœberlegungen zu verstehen, die zum IML führten.

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