Natürlich hatte ich auch bald eine erste Hypothese bezüglich möglicher Ursachen für die Verständnisprobleme meiner Mitschüler. Diese war ganz im Einklang mit dem üblichen Erklärungsmuster meiner Lehrer, die davon ausgingen, dass es ganz einfach mathematisch mehr und weniger begabte Schüler gibt. Die Schüler selbst waren mit dieser Erklärung zufrieden. Und im Prinzip hatte auch ich keinen Grund an dieser Erklärung zu zweifeln. Sie war mir nur ein wenig zu oberflächlich, denn sie liess die Frage offen, woher denn diese Begabungsunterschiede kamen.
Aus irgend ein Grund, den ich nicht mehr rekonstruieren kann, gab es in jener Zeit im Unterricht immer wieder etwas zu zählen. Es entstanden dabei längere Reihen von Kreidestrichen an der Wandtafel. Per Zufall bemerkte ich, dass ich offenbar schneller und besser als viele meiner Mitschüler abschätzen konnte, wie viele Striche da jeweils versammelt waren. Ich beobachtete mich bei diesem Schätzvorgang und stellte fest, dass ich optisch jeweils Pakete zu vier Striche bildete und diese dann zählte. Eine kleine Umfrage zeigt, dass viele andere Mitschüler bei solchen Schätzversuchen ähnlich vorgingen. Im Gegensatz zu mir verwendeten sie aber nur Dreierpakete. Damit wurden für sie Strichmengen ab etwa zwölf Strichen bereits sehr unübersichtlich, wogegen ich bis etwa zwanzig Striche keine Mühe hatte.
Diese Beobachtung faszinierte mich. Vielleicht äusserten sich Unterschiede in der mathematischen Begabung bereits darin, dass Personen rein optisch unterschiedlich grosse Zahlen handhaben konnten. Daraus wurde ein Experiment geboren. Es schien mir klar, dass ich mich nicht auf die Introspektion der einzelnen verlassen konnte. Ich musste schon anhand konkreter Aufgaben prüfen, ob sie mit Dreier- oder Viererpaketen arbeiteten. Ich kreierte deshalb eine Reihe von unterschiedlich gebündelten Strichlisten und hoffte so herauszufinden, mit welcher Paketgrösse die einzelnen besser arbeiten konnten. Dabei war mir auch klar, dass ich ihnen zum Abschätzen nicht beliebig viel Zeit lassen durfte. Es ging darum zu untersuchen, wie gut sie zu einer Schätzung aufgrund eines schnellen Blicks in der Lage war. Die Strichlisten wurden auf Dias übertragen und vor die Optik des Diaprojektors kam der Verschluss eines Fotoapparats, so dass ich die Präsentationszeit bis auf eine 1/1000 Sekunde senken konnte.
Weit kam ich mit dieser Versuchsanordnung nicht. Die ersten Tests ergaben keine klaren Resultate und mir und meinen Mitschülern fehlte die Geduld und das Wissen, die Untersuchung systematisch zu verfeinern. (Später lernte ich dann, dass die zusammengebastelte Apparatur ein ‚Projektionstachistosokp‘ war, eine Apparatur, die in wahrnehmungspsychologischen und kognitionspsychologischen Untersuchungen immer wieder eingesetzt wird.)
Warum erzähle ich das – abgesehen vom Vergnügen, sich an diese allerersten Anfänge zu erinnern? Anhand der Geschichte lässt sich eine wichtige Ausrichtung illustrieren, die in den folgenden Ãœberlegungen immer wieder sichtbar werden wird. Abgesehen von diesem ganz frühen Versuch habe ich mich nie für Ansätze interessiert, die Lernschwierigkeiten mit Eigenschaften der Lernenden wie Begabung und Intelligenz erklären. Mich hat immer der Prozess interessiert, der bei den Lernenden abläuft und Lernen ermöglicht oder verhindert. Der Grund dafür ist eigentlich einfach: Ich suche nicht nach einer Begründung dafür, warum mich die Mitschüler und Mitschülerinnen nicht verstanden und vielleicht gar nicht verstehen konnten. Wissen möchte ich vielmehr, wie ich es anstellen muss, dass sie mich trotz allem verstehen.
Eigenschaften der Lernenden, wie z. B. eine begrenzte Kapazität des Kurzzeitgedächtnis, werden im Folgenden also nie als eine Erklärung individueller Unterschiede eine Rolle spielen. Natürlich gibt es diese Begrenzung des Kurzzeitgedächtnis und man muss ihr Rechnung tragen. Sie wird aber nur als Rahmenbedingung auftreten, der alle Lernenden unterworfen sind. Und die Frage wird allenfalls sein, wie man vorgehen muss, das alle trotz unterschiedlicher Voraussetzungen zum Ziel kommen.