7. Mathematikunterricht (1979)

Selbstverständlich versuchte ich meine in der Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie gewonnenen Ideen auch einzusetzen. Eine Gelegenheit ergab sich, als mich ein interessierter Mathematiklehrer eines Gymnasiums an seinem Unterricht teilnehmen liess. Es handelte sich um eine Klasse, die der Lehrer als schwierig erlebte. Ich versuchte zuerst einmal ein Gefühl für die Situation in dieser Klasse zu bekommen und beobachtete einfach einmal das Geschehen. In der Pause und während die Schüler für sich allein arbeiteten führte ich verschiedene Gespräche. Daraus entstand dann schnell eine erste Analyse, die ich damals so formulierte:

Erste Gespräche mit Schülern und eigene Erfahrungen führen zu einer ersten Vermutung über die Unterschiede zwischen „problemfreien“ Mathematikschülern und „Mathematikversagern“. Die ersten scheinen über ein hierarchisches System von Verfahrensregeln zu verfügen, die es ihnen erlauben mit relativ wenig Wissen – wenig in Bezug auf den notwendigen Speicherplatz – eine grosse Menge von Aufgaben zu lösen. Die „Versager“ dagegen scheinen in mühevoller Kleinarbeit Einzelfälle auswendig zu lernen. Das Wissen der „Versager“ wäre zu vergleichen mit dem Zustand des Wissens über die Lösungen von Gleichungen etwa in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten. Damals waren keine allgemeine Prinzipien für Lösungsverfahren bekannt, genauso wenig wie eine einheitliche Notation. Das vorhandene Wissen bestand in einer umfangreichen Sammlung von Einzelfällen, für die unermüdliche Bastler eine Lösung gefunden hatten. Jede neue Gleichung war damals ein vollständig neues Problem, bei dem das Wissen über Lösungen in anderen Fällen kaum weiter half. Heute – und das würde der Wissensstruktur der „Problemfreien“ entsprechen – ist das Auflösen von Gleichungen keine grosse Sache mehr. Eine geeignete Schreibweise erledigt schon fast alles und der Rest lässt sich in ein paar wenigen Anweisungen zusammenfassen.

Diese Beobachtung gibt zu folgender Ãœberlegung Anlass: Offenbar lassen sich (zumindest) zwei Arten von Lernen unterscheiden; Einerseits ein Lernen von S-R Verbindungen, so wie sich die Behavioristen das Lernen vorstellen; andererseits ein Lernen, dass sich als Entwicklung von handlungsleitenden Schemata – durch Akkomodation und Assimilation – darstellen lässt, so wie etwa Piaget die Entwicklung der Intelligenz beschreibt. Ich will versuchen in einer kurzen Charakterisierung die mir wesentlichen und hier relevanten Unterschiede herausstreichen.

Lernen durch Konditionieren (Wissen 1. Art): Lerninhalte sind S-R Verbindungen, die dem Individuum ein Reagieren auf bestimmte Stimuli erlauben. Welche S-R Verbindungen aufgebaut werden sollen, wird durch irgend eine dem Lerner externe Instanz entschieden. Im Fall Schule ist dies der Lehrer, der festlegt, dass bestimmte S-R Verbindung sinnvoll sind. Sinn erhalten sie für den Schüler nur dadurch, dass er für die Internalisierung dieser Regel belohnt wird. Charakteristisch für diese Art von Wissen ist :

  1. Passivität: Der Besitzer einer S-R Verbindung kann damit nicht viel mehr anfangen, als auf das Auftreten des Stimulus zu warten.
  1. Zusammenhangslosigkeit: S-R Verbindungen sind in sich geschlossene Gebilde; zwischen ihnen sind keine Verbindungen vorgesehen und lassen sich auch kaum herstellen.
  1. Trägheit: Aus a) und b) ergibt sich, dass sich dieses Wissen kaum weiterentwickelt in dem Sinn, dass ein hierarchisches Gebäude entsteht, das Gruppen von S-R Verbindungen zusammenfasst und allgemeineren Prinzipien unterstellt, denn dazu sind die einzelnen Verbindungen zu isoliert und ihr Besitzer ist zu passiv.
  1. Gesetzt: Ankonditioniertes Wissen wird als von aussen gegeben erfahren (entweder durch eine Autoritätsperson oder durch die Natur als oberste Autorität in Form von Naturgesetzen).

Lernen durch Akkomodation/Assimilation (Wissen 2. Art): Lerninhalte – oder besser Wissensinhalte, denn anders als beim Konditionieren ist hier das, was hereinkommt (Lerninhalt), und das, was gewusst wird, nicht identisch – sind Schemata (Piaget) bzw. Modelle, die eine regelgeleitete Selbststeuerung des Individuums gestatten. Diese Modelle erarbeitet sich das Individuum selbst und zwar dadurch, dass es bereits vorhandene Modelle, die sich in bestimmten Punkten als inadäquat erweisen, in diesen Punkten erweitert und neuen Gegebenheiten anpasst. Die Funktion des Lehrers liegt hier v.a. darin, den Schüler mit neuen Problemen zu konfrontieren und Tipps zu geben, in welcher Richtung eine mögliche Modellerweiterung liegt. Charakteristisch für diese Art von Wissen ist :

  1. Eigendynamik: Jede Akkomodation des Modells erweitert den Horizont und führt damit unweigerlich zu neuen „Problemen“, die eine weitere Akkomodation notwendig machen. Dabei ist jede Akkomodation eine eigenständige Leistung des Subjekts, da es ja nicht einfach einen neuen Inhalt abspeichert, sondern sein eigenes Modell, das nur ihm im Detail zugänglich ist, erweitert.
  1. Zusammenhängend: Schemata können grössere Wissensgebiete zusammenhängend erfassen.
  1. Erarbeitet: So geartetes Wissen wird vom Subjekt als eigenständige Leistung in der Umweltbewältigung empfunden.

Beide Arten von Wissen haben ihre Vor- und Nachteile. Wissen 1. Art (ankonditioniert) kann relativ schnell erworben werden. Der Lernvorgang ist äusserst ökonomisch, wenn es darum geht für eine bestimmte Gelegenheit praktisch automatische Reaktionen auf einen Stimulus zu erreichen und der Zusammenhang keine grosse Rolle spielt (z.B. Lernen eines uninteressanten Stoffs auf eine Prüfung, bei der es nur darauf ankommt auf eine Frage blitzschnell die dem Lehrer genehme Antwort zu produzieren). Es wird schnell wieder vergessen, wenn es nicht in Gebrauch ist, was ein Vorteil (s. Prüfung) oder auch ein Nachteil sein kann. Nachteile sind unter Umständen die oben erwähnte Passivität und Zusammenhangslosigkeit. Zudem stellen auch schon kleine Variationen im Stimulus ein Problem dar, weil wegen der Isoliertheit der einzelnen S-R Verbindungen kein übergeordnetes Konzept die Entscheidung leiten kann, ob die Reaktion noch ausgelöst werden soll oder nicht.

Ein Nachteil des Wissens 2. Art ist, dass es sich kaum so leicht von einem Tag auf den anderen erwerben lässt, sondern einen langwierigen Bildungsprozess erfordert. Es stellt hohe Anforderungen an den Lehrer, dem es gelingen muss, den Prozess im Schüler in Gang zu halten, ohne dass er durch Ãœberforderung abbricht. Es sind das eigene Tempo des Schülers sowie seine Lösungsvarianten zu respektieren. Vorteile sind, dass dieses Wissen in der Persönlichkeitsstruktur verankert wird und somit nicht so schnell wieder vergessen geht, sondern im Gegenteil immer weiter entwickelt wird. Die Motivation ist intrinsisch und die Haltung gegenüber Neuem ist nicht wie beim Wissen erster Art Hilflosigkeit – “ das haben wir noch nicht gehabt“- sondern Neugierde.

Mathematik – und auch Physik – auf Mittelschulniveau zeichnen sich nun dadurch aus, dass im Grunde genommen sehr wenige Prinzipien, Regeln oder Gesetze den ganzen Stoff abdecken. Das will nicht heissen, dass diese Fächer wenig zu tun gäben; keinesfalls, denn die Aneignung dieser wenigen Regeln ist recht zeitraubend. Aber wenn man den Stoff niederschreibt, dann lässt sich das Ganze auf ein paar wenigen Seiten niederlegen, wie z. B. die einführenden Kapitel entsprechender Lehrbücher auf Universitätsstufe zeigen. Diesen wenigen Regeln stehen eine Unmenge von Anwendungsbeispielen und Problemen gegenüber, die sich damit bearbeiten lassen und die an der Oberfläche die verschiedensten Formen und Inhalte zeigen. Wahrscheinlich ist in keinem Fach die Diskrepanz zwischen der oberflächlicher Formenfülle der zu bearbeitenden Aufgaben und der zugrunde liegenden „Einfachheit“ der Strukturen so gross. Etwa in den Sprachfächern kennt im Gegensatz zur Mathematik jede Regel ihre Ausnahmen, die auch ein gut organisiertes Wissen rein dem Umfang nach vergrössern.

Das führt dazu, dass in Mathematik Schüler mit Wissen 1. Art gegenüber Schülern mit Wissen 2. Art extrem im Nachteil sind, was die Menge und Ãœbersichtlichkeit des Wissensstoffes betrifft. Den Schülern mit Wissen 2. Art stehen ein paar absolut verlässliche Prinzipien zur Verfügung, die – hierarchisch geordnet – ihr Verhalten steuern können und ihnen erlauben, prinzipiell mit einigem Vertrauen jede Aufgabe anzugehen. Oft wird eine solche Aufgabe im ersten Augenblick vollkommen unvertraut erscheinen, aber sie können sich langsam hineinarbeiten.

Schüler mit Wissen 1. Art hingegen stehen vor einem Berg von Übungsbeispielen, die an der Oberfläche alle ganz anders aussehen. Nur selten taucht etwas auf, das einem schon gelösten Beispiel gleicht. Als Prüfungsvorbereitung bleibt ihnen nur eine Unmenge von Aufgaben zu bearbeiten in der Hoffnung, die eine oder andere werde in der Prüfung auch auftauchen.

Die Gründe, warum bestimmte Schüler eher Wissen der 1. oder der 2. Art aufbauen, mögen verschieden sein. Klar ist aber, dass die Lehrenden im Mathematikunterricht versuchen sollten, Wissen der 2. Art aufzubauen. Anregungen dazu, wie dies geschehen könnte, findet man etwa in den Arbeiten von Martin Wagenschein. Wagenschein hat sich mit der Lehrerausbildung beschäftigt und hat v.a. zur Physikdidaktik einiges erarbeitet und veröffentlicht (z.B. Wagenschein, 1962, 1975). Er bezieht sich bei seinen Betrachtungen nicht (oder selten) direkt auf Piaget, könnte das aber durchaus tun.

Um das Problem zu illustrieren, zitiert er an einer Stelle eine kleine Umfrage unter Universitätsstudenten im ersten Semester. Von 28 können auf die Frage „Wo hört denn eigentlich die Erdanziehung auf“ nur 3 eine befriedigende Antwort geben. Der Hälfte der anderen fällt dazu gar nichts ein und der Rest gibt Antworten wie „Ausserhalb der Atmosphäre“. (Wagenschein, 1962, S. 112) (Eine kleine, absolut nicht repräsentative Befragung meinerseits von Absolventen eben des Gymnasiums, in dem ich meine Beobachtungen machte, ergab ähnliche Resultate. Das Phänomen ist weit verbreitet und wird unter dem Begriff der „naiven Physik“ diskutiert, vgl. etwa McCloskey, 1983)

Wagenscheins Erklärung dafür ist, dass diese Schüler einfach unter Druck gelernt hatten auf Befehl die Formel „F = G m1m2 / r2“ zu reproduzieren. Dahinter steckt aber keine Einsicht. Die alte Vorstellung „Die Anziehungskraft der Erde hört ausserhalb der Atmosphäre auf“, die sie vielleicht schon als 12-jährige hatten, besteht weiter. Fällt dann der Druck weg, dann kommt sie wieder zum Vorschein. Für den Unterricht bedeutet das:

  • Ein sinnvoller Unterricht der nicht einfach nur Fassaden produzieren will, muss vom aktuellen Horizont und Problemstand der Schüler ausgehen (Wagenschein nennt das „genetischer Unterricht“).
  • Das heisst nun aber nicht, dass man den Schüler einfach sich entwickeln und seinen Problemen nachgehen lässt. Dazu brauchte man keine Schule und die Schüler kämen nicht besonders weit, denn sie müssten mindestens 2 bis 3 Jahrtausende Menschheitsentwicklung erarbeiten. Es geht vielmehr darum ihnen zu zeigen, dass das, worum es im „Stoff“ geht (z.B. das Fallgesetz) ein Problem ist, das sich auch aus ihrer Weltsicht stellt.
  • Ist ein Problembewusstsein erreicht, besteht die Aufgabe des Lehrerenden darin, Informationen zur Verfügung zu stellen, die eine zügige Lösung des Akkomodationsproblems ermöglicht.

Um dies zu erreichen, schlägt Wagenschein verschiedenes vor:

  1. Der Lehrer soll sich historisch mit der Zeit und den Personen beschäftigen, für die das aktuelle Thema noch ein echtes Problem war (z. B. beim Fallgesetz mit Galilei). Dadurch lernt er den „Stoff“ wieder als nicht selbstverständliches Resultat zu verstehen, sondern als Lösung eines wirklichen Problems.
  2. Der Lehrer soll die Schüler immer wieder ihre eigenen Ideen entwickeln lassen, damit er versteht, was aus ihrer Sicht ein Problem ist. Dabei soll er gerade nicht die „guten“ Schüler beiziehen, die oft schon ein effizientes Wissen 2. Art haben und die Probleme deshalb nicht mehr spüren, sondern die schlechten.
  3. Besonders schwierig ist der Einstieg in ein neues Gebiet. Wenn der Prozess einmal läuft, weiss der Lehrer, was die aktuelle Problemlage ist. Ganz zu Beginn weiss er dies nicht. Als Einstieg empfiehlt Wagenschein deshalb ein Problem oder Phänomen, das möglichst mit der alltäglichen sinnlichen Erfahrung verknüpft ist, das aber von seiner Anlage her bei genauer Betrachtung sehr weit führt (ein Beispiel Wagenscheins : „Wo fällt ein Stein hin, den ich von einem hohen Turm fallen lasse?“, das führt etwa über Erdrotation, vermutete Westabweichung, Trägheit, Komponentenzerlegung von Geschwindigkeiten bis zur Ostabweichung als Ãœberraschungseffekt; fast die ganze Mechanik kann daraus entstehen). Der Lehrer stellt dieses vor und lässt die Klasse einmal von sich aus, gelockt und geleitet durch z. T. bewusst verwirrende Fragen, das ganze diskutieren, bis sich eine geschlossene Stossrichtung bildet, die man dann weiterführen kann.
  4. Solche Einstiege brauchen natürlich viel Zeit und zudem gibt es nicht zu allen Gebieten solch anschauliche und provokative Zugänge. Mit ihnen lassen sich aber so etwas wie Stützpunkte errichten. Den Rest des Stoffs kann man dann ruhig als Verbindung zwischen diesen Punkten erzählen, denn sind sie einmal da, so ist auch das Interesse nach dem Zusammenhang gegeben.

So weit mein erster Versuch, dem Lehrer, den ich begleiten durfte, eine Hilfestellung zu geben. Ziel des Projektes wäre es gewesen, zusammen mit ihm dieses Modell der zwei Wissensarten weiter zu entwickeln und abzuschleifen, bis daraus für ihn ein griffiges Instrument entstanden wäre. Leider kam es nicht dazu, da der Lehrer in meinen Gedanken ein paar Ideen zu erkennen glaubte, die er nicht mittragen wollte. Er verstand mein bzw. Wagenscheins Vorschlag, die Lernenden dort abzuholen, wo ihre echten Interessen sind, als Aufforderung, eine gewisse „Konsumhaltung“ unter den Lernenden zu unterstützen, als Versuch, ihnen das Leben so leicht wie möglich zu machen. Nach seiner Meinung war dies grundfalsch. Er war der festen Ãœberzeugung, dass zumindest im Fach Mathematik nur eine harte, anstrengende Auseinandersetzung mit dem Stoff zum Erfolg führen kann. Zudem waren nach seiner Ansicht Schüler, die nicht aus eigenem Interesse lernen wollen, im Gymnasium fehl am Platz. Aus meiner Sicht war das ein Missverständnis. Aber auch mehrere Gespräche und ein längerer Briefwechsel konnten dies nicht klären, so dass ich nach einigen Monaten das Projekt aufgeben musste.

Geblieben sind von dieser Erfahrung:

  • Gute Kandidaten für zwei Arten von ganz unterschiedlich strukturiertem Wissen sind einerseits die S-R Verbindungen der Behavioristen und andererseits die Schemata Piagets.
  • Auch Lehrer verstehen mich nicht! (Diese Erfahrung war so einschneidend, dass ich für viele Jahre nicht mehr versucht habe, einem Lehrer etwas zu erklären.)

Literatur

  • McCloskey, M. (1983) Intutive physics. Scientific American, 248, 4, 1983, 114-122.
  • Wagenschein, M. (1962) Die Pädagogische Dimension der Physik. Braunschweig: Westermann.
  • Wagenschein, M. (1975) Verstehen lehren. Weinheim: Beltz.

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