32. Eine erste Annäherung an die ursprüngliche Frage (2004)

Das folgende waren meine Gedanken zur Zeit, als das IML als Buch erschien. Unterdessen gibt es zum Thema Mathematik bzw. Alltagsmathematik einiges mehr zu sagen.

Eingangs habe ich geschildert, aus welcher Situation heraus ich mich für das Thema „Lernen“ zu interessieren begann. Es waren Gespräche, in denen es mir nicht gelang mein mathematisches Wissen an meine Mitschüler weiterzugeben. Hier nochmals als Beispiel der Dialog aus dem Abschnitt der Auslöser.

  • Hans:   Du, diese Aufgabe, wo wir das Minimum ausrechnen müssen, kannst du mir erklären, wie das geht?
  • Ruedi:  Welche meinst du?
  • Hans:   Hier schau: Gesucht ist das Minimum von y = 4x2 + 3x -17.
  • Ruedi:  Aha ja. Da muss man herausfinden, für welches x das y am kleinsten ist.
  • Hans:   Gut. Und wie macht man das?
  • Ruedi:  Du musst einfach die Ableitung der Funktion nehmen und diese Null setzen.
  • Hans:   Nullsetzen?
  • Ruedi:  Ja, du musst das x suchen, für das dann das y Null wird.
  • Hans:   Und warum muss man das machen?
  • Ruedi:  Ja weist du, im Minimum geht es weder nach oben noch nach unten. Die Steigung ist dort also flach und damit Null.
  • Hans:   ??
  • Ruedi:  Kannst du dir das nicht vorstellen?
  • Hans:   Nein.
  • Ruedi:  Ja also, die Funktion sieht irgendwie so aus (zeichnet eine Parabel).

  • Hans:   So?
  • Ruedi:  Ja! Und das Minimum, das ist dann hier. Und hier ist die Steigung Null.
  • Hans:   Warum? Es geht doch auf beide Seiten hinauf?
  • Ruedi:  Schon. Aber es geht um die Tangente. Und die verläuft hier flach. …. usw.

Von diesem Ausgangspunkt haben sich immer neue Fragen ergeben, die wie Wellen immer weitere Kreise zogen bis hin zur Gestaltung ganzer Ausbildungen und lernenden Organisationen. Was lässt sich nun aber, dreissig Jahre später, zur ursprünglichen Frage sagen?

Damals habe ich die Anfragen meiner Mitschüler als Bitte um eine Instruktion verstanden und auch so gehandelt. Relevant sind für die Analyse der Situation also einmal die in Buch Kapitel 1 beschreiben Schwierigkeiten beim Verstehen einer Instruktion. Im Dialog bekommt man den Eindruck, dass HANS mit verschiedenen Punkten der Aufgabe Probleme hat. Er weiss nicht, was mit „Nullsetzen“ gemeint ist; er ist überrascht, dass die Funktion graphisch als Parabel dargestellt werden kann; er hat Probleme, die Steigung im mathematischen Sinn zu sehen und vermutlich hat er noch andere Schwierigkeiten. All diese Dinge hängen irgendwie zusammen. Es gibt zwar einige Punkte, die man als grundlegende Voraussetzungen separat behandeln könnte, so etwa die graphische Darstellung von Funktionen. Die meisten Punkte machen aber erst im Zusammenhang mit allen anderen Sinn. Sogar die graphische Darstellung bekommt erst eine Bedeutung, wenn man sie für etwas brauchen kann. Es dürfte sich beim Wissen, das HANS fehlt, um einen typischen Fall „nicht inkrementell aufbaubaren Wissens“ handeln. Zudem fehlt ihm wohl auch der „Anwendungskontext“, wenn das auch nicht direkt aus dem Dialog hervorgeht. Die Voraussetzungen für eine gelingende Instruktion sind also äusserst schlecht, um nicht zu sagen hoffnungslos. Dass ich damals mit einer raschen Erklärung jeweils in der Pause vor der Mathematiklektion kaum etwas erreichen konnte, überrascht also nicht.

Vor denselben Schwierigkeiten stand natürlich auch der Lehrer. Bei ihm kam noch dazu, dass er seine Instruktion gleich an eine ganze Klasse richtete. Dadurch hatte er noch viel mehr Mühe, das vorhandene Vorwissen abzuschätzen und darauf aufzusetzen, als ich im Gespräch mit nur einem Mitschüler. Die Lösung des Minimumproblems mit Hilfe des Differenzierens ist also ziemlich sicher ein Thema, dass über Instruktion allein nicht gelehrt und gelernt werden kann. „Aus Erfahrung“ allein aber auch nicht (vgl. Buch Kapitel 8). Man kann praktisch ausschliessen, dass ein Schüler über verschiedene Versuche Minima zu berechnen zu dieser Lösung gelangt. Notwendig wäre folglich eine Kombination beider Zugänge, die aber nicht stattgefunden hat. Der Lehrer führte die Lösung rein über eine Instruktion ein. Die Aufgaben, welche die Schüler anschliessend zu bearbeiten hatten, waren ausschliesslich als Ãœbungsaufgaben gedacht und wurden auch so verstanden (vgl. Buch Kapitel 14). Sie konnten nicht benutzt werden, um selbst Erfahrungen zu sammeln und anschliessend um eine neue, nun verständlichere Instruktion zu bieten. Natürlich illustrierte der Lehrer die Lösung anhand eines Beispiels. Dabei führte er aber eine reine Expertenlösung vor, die für die Schüler kein Erfahrungsersatz bildete (vgl. Buch Kapitel 8).

Allerdings wäre es für den Lehrer (übrigens ein junger Mathematiker frisch von der Universität) gar nicht so leicht gewesen, seinen nun im etwa im zehnten Schuljahr stehenden Schüler geeignete Erfahrungen zu vermitteln. Hätte er sie einfach einmal selber ohne vorgegeben Lösungsweg an einer Minimumaufgabe arbeiten lassen, hätten die meisten wohl einfach gestreikt. Der Glaube daran, dass zwischen dem mathematischem Stoff und irgend einem interessanten Anwendungskontext eine Verbindung besteht, war bei ihnen längst verloren gegangen. Vom Lehrer erfundene Beispiele wären darum wohl kaum als relevant akzeptiert worden (vgl. Buch Kapitel 25). Er hätte also einen beträchtlichen Aufwand betreiben müssen, damit die Schüler selbst geeignete Beispiele geliefert hätten.

Was hätte ich in dieser Situation tun können? Nun, ein erster Schritt hätte darin bestanden, das Modell „Ich erkläre, du verstehst und wendest an“ zu verlassen. Ich dachte immer, ich müsste nur meine Darstellung, meine Instruktion verbessern, dann würden die anderen verstehen und erleuchtet zur Anwendung schreiten. Genau diese Optimierung der Instruktion vor der Anwendung brachte aber aus den geschilderten Gründen nichts. Ich hätte die Probleme meiner Mitschüler als erste Erfahrungen mit diesem Aufgabentyp verstehen müssen und meine Instruktion hätte dann als Instruktion nach Erfahrungen dazu dienen können, ihnen diese Erfahrungen verständlich zu machen (vgl. Buch Kapitel 10). Konkret hätte das bedeutet, anstatt gleich mit einem Vortrag zu beginnen, zuerst einmal nach den bisher gemachten Erfahrungen zu fragen.

Allerdings ist fraglich, ob ich in der knappen Zeit einer 7’30“ langen Pause weit gekommen wäre, zumal in dieser Zeit auch noch die Zimmer gewechselt werden mussten. Meistens brauchen solche Hilfen etwas mehr Raum. Vor allem, wenn sie den Anspruch haben, die Fragenden von weiteren Hilfen unabhängig zu machen. Und diesen Anspruch hatte ich durchaus. Ein sinnvolleres Setting wäre also eine Art Nachhilfeunterricht gewesen. Dieser hätte als eine Art Miniaturschiene (vgl. Buch Kapitel 24) organisiert sein können. Teilgenommen hätten vielleicht drei bis vier der Mitschüler. Ich hätte versucht, sie selber Anwendungsbeispiele zum jeweiligen Thema finden zu lassen und dann hätte man jeweils einen der Aspekt der Lösung, wie „Problem als Funktion beschreiben“, „Funktion graphisch darstellen“, „Steigung und Differenzieren“ und „Punkte mit charakteristischen Steigungsmerkmalen“ behandelt.

Erst kürzlich bin ich über das Buch von „Beyond Formulas in Mathematics and Teaching“ gestolpert. Auf einem etwas anderen Weg aber aufgrund ähnlicher Erfahrungen kommt Chazan dort zu ähnlichen Schlüssen und zu einer ganz ähnlichen Form des Mathematikunterrichts, wie ich mir meine Nachhilfeschiene vorstelle.

Literatur

  • Chazan, D. (2000) Beyond Formulas in Mathematics and Teaching. New York: Techers College Press.

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