Statistikunterricht eines Anfängers

Ehrlicherweise muss ich hier kurz von einer ersten Phase eigener Lehrtätigkeit berichten, die ich rückblickend nicht gerade als Musterbeispiel guten Unterrichts bezeichnen kann. Als Psychologe mit mathematischem Hintergrund war es naheliegend, dass ich den Statistikunterricht am Psychologischen Institut übernahm. Ich unterrichtete das Fach vier Jahre lang, ein Jahr lang kamen noch „empirische Methoden“ dazu und anschliessend folgten verschiedene kognitionspsychologische Seminare zu Themen wie „Sprache und Kommunikation“, „Lernen“, „Wissen und Denken“ etc.

Vor allem die „Statistik“ und die „empirischen Methoden“ fanden im wesentlichen als Frontalunterricht statt. Dies hatte zwei Gründe. Einerseits suchte ich immer noch nach der guten Darstellungsform, die für die Lernenden automatisch den Stoff verständlich, greifbar und sinnvoll machen würde. Lernprobleme waren für mich immer noch im wesentlichen Kommunikationsprobleme des Lehrers.

Ein zweiter Grund für meinen Hang zum Frontalunterricht lag aber einfach darin, dass ich in den zu unterrichtenden Gebieten keineswegs so sattelfest war, dass ich mich wie ein Fisch im Wasser bewegen konnte. Einige Zusammenhänge musste ich mir zuerst noch erarbeiten. Für Vieles musste ich zuerst eine mir selbst einleuchtende prägnante Darstellung finden. Unterrichten bedeutete für mich in jener Phase also vor allem, dass ich mir selbst über den Stoff klarer wurde und dann meine Erleuchtungen vor der Klasse darstellte.

Später im Rahmen der kognitionspsychologischen Seminare änderte sich die Situation etwas. Ich verfügte wesentlich souveräner über die Inhalte und hatte somit auch mehr Ressourcen, um andere Unterrichtsformen auszuprobieren.

Zentrale Themen meiner Unterrichtstätigkeit in jener Zeit waren also die folgenden:

Suche nach der optimalen Darstellung

Diese Darstellungen dienten wie gesagt einmal dazu, mir selbst ein klares Bild zu machen, sollten aber im besten Fall auch den Lernenden unmittelbar einleuchten. Die Macht der guten Darstellung sah ich unter anderem in den Arbeiten von Amarel (Amarel, 1968, 1983). Vor allem seine Analyse des „Missionare und Kannibalen Problems“ ist überzeugend.

Das „Missionare und Kannibalen Problem“ ist eine alte Denksportaufgabe. Drei Missionare die zusammen mit drei Kannibalen durch den Urwald reisen, treffen auf einen Fluss. Sie verfügen über ein Boot, das zwei Personen auf einmal übersetzen kann. Damit lässt sich eine Ãœberfahrt realisieren, indem das Boot mehrfach hin und her pendelt. Allerdings müssen die Missionare dabei darauf achten, dass zu keinem Zeitpunkt die Kannibalen an einem der Ufer in der Ãœberzahl sind, da diese sonst sofort die dort anwesenden Missionare verspeisen würden.

Man kann dieses Problem verallgemeinern, indem man eine beliebige Anzahl Missionare (und entsprechend viele Kannibalen) und eine beliebig grosses Boot annimmt und sich z. B. fragt, bei welchen Kombinationen der Werte eine Lösung überhaupt möglich ist. Amarel entwickelt über eine Serie von Zwischendarstellungen eine Darstellung, in der die Lösung direkt ins Auge springt (Amarel, 1983). In dieser Darstellung sind die möglichen Zustände nach zwei Dimensionen geordnet: Anzahl Kannibalen am Ausgangsufer und Anzahl Missionare am Ausgangsufer (Figur 1). Start ist beim Punkt (3,3) oben rechts, d.h. zu Beginn befinden sich alle drei Kannibalen und alle drei Missionare am Ausgangsufer. Ziel ist der Punkt (0,0) unten links, an dem alle Kannibalen und alle Missionare sich auf der anderen Flussseite befinden.

Figur 1: Mögliche und gute Zustände im Missionare-und-Kannibalen-Problem

Die Zustände, die für die Missionare keine Gefahr darstellen, liegen in dieser Darstellung auf einem grossen Z. Bei den Zuständen auf dem oberen waagrechten Balken sind immer alle Missionare am dem Ausgangsufer, d.h. keiner ist auf der anderen Seite und entsprechend spielt es keine Rolle, wie viele Kannibalen dort sind. Umgekehrt befinden sich in den Zuständen auf dem unteren Balken alle Missionare bereits am anderen Ufer und somit ist gleichgültig, wie viele Kannibalen noch am Ausgangsufer zurückgeblieben sind. Dazwischen sind nur die Zustände sicher, in denen auf dem Ausgangsufer (und damit automatisch auch auf dem Zielufer) gleich viele Kannibalen wie Missionare warten. Diese Zuständen liegen auf dem Querbalken des Z.

Bootsfahrten kann man in diese Darstellung als Sprünge von einem Punkt zu einem anderen einzeichnen. Fährt das Boot vom Ausgangsufer zum Zielufer, geht der Sprung von rechts nach links bzw. von oben nach unten. Kommt das Boot zurück, führt der Sprung entsprechend nach rechts bzw. oben. Wie gross die Sprünge sein können, hängt von der Grösse des Bootes ab. Mit einem Boot, das zwei Personen fasst, können sie höchsten bis zum übernächsten Zustand führen.

Die Lösung für das Problem mit drei Missionaren und einem Boot für zwei Personen ist in Figur 2 eingezeichnet. Sie führt über die Punkte (3,3), (3,1), (3,2), (3,0), (3,1), (1,1), (2,2), (0,2), (0,3), (0,1), (0,2) und (0,0). Wie man sieht, besteht der zentrale Knackpunkt der Aufgabe darin, vom oberen Balken auf die Diagonale und von dort weiter auf den unteren Balken zu springen. Dazwischen findet notwendigerweise immer eine Bewegung nach oben oder rechts statt, durch die das Boot zurückgebracht wird. Und damit wird sofort sichtbar, dass die Aufgabe nur lösbar ist, wenn das Boot einen Sprung über mehr als die Hälfte des Grabens zwischen oberem und unterem Balken erlaubt.

Figur 2: Die Lösung des Missionare-undKannibalen-Problems

Suche nach dem zündenden Beispiel

Wagenschein (und Piaget) hatten mich davon überzeugt, dass vertieftes Lernen nur einsetzt, wenn die Lernenden den Stoff als Antwort auf eine Frage erleben (vgl. 8??). Daher suchte ich immer wieder nach geeigneten Beispielen, die dieses Interesse wecken könnten. Dabei versuchte ich allerdings vor allem den Unterhaltungswert der Beispiele zu steigern, in der Hoffnung, so das Eis brechen zu können.

Zur Illustration ein Beispiel aus dem Statistikunterricht zur Einführung verschiedener Skalenniveaus von Daten:


Ein Forscherteam aus dem Kanton Bern möchte seinen Mitbernern die Ostschweiz, die ja doch und trotz allem noch zur Schweiz gehört, etwas näher bringen. Insbesondere die Appenzeller. Sie haben deshalb einen Frageboden entwickelt, 8 Appenzeller befragt und folgende Resultate erhalten.

Appenzeller Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8
Grösse (cm) 169 174 195 158 170 163 168 171
bevorzugte Käsesorte 1) 1 3 1 1 3 1 1 3
Intelligenz 134 120 75 149 115 128 110 123
„Gehört Bern noch zur Schweiz ?“ 2) 2 1 5 2 1 2 2 2

 

1) 1: Appenzeller; 2: Emmentaler; 3: andere

2) 1: sicher nicht; 2: eher nicht; 3: unentschieden; 4: eher ja; 5: sicher ja

Um herauszufinden, wie nun der typische Appenzeller ist, berechnen sie überall die Mittelwerte und erhalten

Grösse: 171 Käse: 1.75
Intelligenz 119 Zugehörigkeit von Bern: 2.125

 

So sind sie in der Lage, ihren Mitbernern das Bild des typischen Appenzellers zu vermitteln.

Wie sie die Resultate publizieren, geraten sie aber bald unter Beschuss. Als erstes reagiert der Berner Käseverband. Da ihm aus seiner Statistik bekannt ist, dass der Emmentalerverkauf im Appenzellerland noch nie rentiert hat, der „Käsewert“ mit 1.75 aber doch recht nahe beim Emmentaler liegt, wittert er eine Manipulation der Daten. Er beauftragt eine unabhängige Kommission der ETH Zürich mit der Abklärung der Sache. ….


Ich habe diese Suche nach der optimalen Darstellung und dem zündenden Beispiel später oft auch bei anderen Lehrenden beobachtet. Aus der eigenen Erfahrung würde ich deshalb sagen: Die Suche nach der optimalen Darstellung und dem zündenden Beispiel braucht nicht den Schülern zu Liebe erfolgen. Sie kann gerade so gut dem Bedürfnis der Lehrenden entspringen, den Stoff in den Griff zu bekommen.

Literatur

  • Amarel, S. (1968) On representation of problems of reasoning about action. in: Michie, D. (ed.), Machine Intelligence 3, Edinbourgh, 1968.
  • Amarel, S. (1983) Problems of representation in heuristic problem solving: related issues in the development of expert systems. in: Groner, R. Groner, M. & Bischof, W. F. (eds.); Methods of Heuristics , Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum, 1983, 245-350.