Piaget als Erkenntnistheoretiker und Piaget als Psychologe

Piagets erkenntnistheoretischen Überlegungen haben meine Arbeit stark beeinflusst. Piaget sucht nun aber nicht nur ein Modell der logischen Möglichkeit von Erkenntnis, sondern er will eine Beschreibung der psychologischen Vorgänge beim Lernen bieten. Deshalb war nach Abschluss meiner erkenntnistheoretischen Arbeit eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Anspruch notwendig.

Nimmt man die Idee ernst, dass Modelle ein Ziel haben, dann ist zu ihrer Bewertung natürlich die Kenntnis dieses Ziels notwendig. Bei Piaget ist nicht leicht zu sehen, welche Interessen er genau mit seinen Theorien verfolgt. Es gibt zwar an der einen oder anderen Stelle in den Einleitungen zu seinen Büchern entsprechende Bemerkungen. Zum Beispiel schreibt er in der „Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde“ (Piaget, J. & Inhelder, 1971), dass die Resultate dazu dienen könnten, den Unterricht in Geometrie etc. kindgerechter zu gestalten. Im restlichen Buch wird dies aber nicht mehr aufgegriffen oder gar systematisch bearbeitet. In anderen Werken ist ähnliches zu beobachten. Man ist also auf Vermutungen angewiesen, die sich auf seine Art zu argumentieren stützen lassen.

Im ganzen Werk von Piaget lassen sich – so scheint es mir wenigstens – deutlich drei Quellen ausmachen, die Piaget immer wieder heranzieht, um die Stimmigkeit seiner Theorien zu überprüfen.

  1. Die philosophische Tradition, insbesondere die Erkenntnistheorie.
  2. Mathematik und Logik
  3. Experimente

1. Konsistenz mit der philosophischen Tradition

Ein zentrales Anliegen Piagets – wie der philosophischen Tradition, der er sich verpflichtet fühlt – ist sicher der kosmologische Ãœberblick. Sein Hauptbemühen geht darum, Mikrokosmos/Ontogenese mit Makrokosmos/Phylogenese in Einklang zu bringen. Er versucht z. B. darzustellen, wie beim Erwerb von Erkenntnissen (d.h. der Regulationsmechanismen, die den Austausch zwischen Subjekt und Umwelt effizienter machen) sowohl beim einzelnen Individuum wie auch bei der Art die gleichen Mechanismen wirksam sind. Er geht dabei so vor, dass er Evolutionstheorie, Erkenntnistheorie und Entwicklungspsychologie auf einen Nenner zu bringen versucht (v.a. Piaget, 1973, 1974). Die Richtigkeit seiner Theorien begründet er weitgehend darauf, wieweit ihm diese angestrebte Synthese gelungen ist. Zentraler Ankerpunkt dieser Synthese ist die Einführung eines echt dialektischen Austausches zwischen Subjekt und Umwelt, der durch die Notwendigkeit eines flexiblen Gleichgewichts gelenkt wird.

Der Versuch dieser Synthese bestimmt weitgehend die Richtung seines Denkens und die Form seiner Theorien. Durch diese philosophische Quelle sind folgende Aspekte seiner Theorie abgesichert :

  • Der Mechanismus von Akkomodation und Assimilation
  • Die „majorisierende Äquilibration“, d.h. die fortschreitende Entwicklung flexiblerer Gleichgewichtsformen (Piaget, 1976).

2. Konsistenz mit Mathematik und Logik

Mathematische Systeme (v.a. Gruppentheorie, euklidische Geometrie) sind für Piaget die höchsten bekannten Gleichgewichtsformen, d.h. die momentan „besten“ Produkte der Phylogenese (Piaget, 1971, Piaget & Inhelder, 1971). Ziel der Ontogenese ist es, den maximalen Stand der Phylogenese zu erreichen, d.h. die Endformen der Entwicklung des einzelnen Individuums sind eben die betrachteten mathematischen Systeme. Aufgabe einer Entwicklungstheorie ist es darzustellen, wie die einzelnen im Endzustand enthaltenen Gleichgewichtsformen (d.h. Konstanzen wie Mengenkonstanz etc.) der Reihe nach auftauchen. Durch die mathematische Quelle sind folgende Aspekte seiner Theorien abgesichert :

  • Endzustand der Entwicklung
  • die einzelnen „Konstanzen“, die erworben werden müssen.

3. Experimentelle Evidenz

Die durch die „philosophische“ und „mathematische Quelle“ abgesicherte Theorie lässt nur noch zwei experimentelle Fragen offen :

  • Lassen sich Entwicklungsabschnitte bei Kindern beobachten, bei denen zu Beginn eine gewisse, vom Endzustand verlangte Konstanz noch nicht vorhanden ist, am Ende aber vorliegt?
  • In welchem Alter wird welche Konstanz erworben?

Die empirische Frage ist also nicht, wohin sich die Kinder überhaupt entwickeln. Als Endform werden einfach die entsprechenden mathematischen Systeme angenommen. Ja nicht einmal die Abfolge der Stufen wird empirisch geklärt. Sie wird aus dem logischen Aufbau der entsprechenden mathematischen Disziplin abgeleitet. So ist die Mengenlehre in der modernen Mathematik die Grundlage für die Zahlenlehre und entsprechend wird erwartet, dass die mit der Mengenlehre verbundenen Konstanzen auch vorher erworben werden. Piagets Experimente sollen nur zeigen, dass sich die von der Theorie behaupteten Ãœbergänge tatsächlich beobachten lassen, und legen in Form von Altersangaben gewisse „Naturkonstanten“ fest, mit denen die Theorie rechnet.

Dies ist grundsätzlich kein Problem. Eine starke, hier auf Philosophie und Mathematik abgestützte Theorie, erlaubt auch präzise Vorhersagen die sich gut testen lassen. Die Schwierigkeit bei Piaget ist nur, dass ich den Eindruck nicht los werde, dass ihm nur die ersten beiden oben formulierten Ziele (Konsistenz mit der philosophischen Tradition und Konsistenz mit Mathematik und Logik) wichtig waren. Vielleicht hat ihn sogar nur das erste davon wirklich interessiert. Seine empirischen Untersuchungen scheinen nur dazu zu dienen, um zu sehen ob die Theorie nicht in offensichtlichem Widerspruch zu Beobachtbarem steht. Piagets „empirische Forschung hatte daher nie die Aufgabe, ‚die‘ kognitive Entwicklung zu untersuchen. Ihr Anspruch ist bescheidener. Sie soll ausfindig machen, ob es Entwicklungsverläufe gibt, die als Annäherungen an das vorgängig definierte Ziel der Entwicklung rekonstruiert werden können.“ (Herzog, 1991, S. 291).

Systematische empirische Untersuchungen, welche die Grundlagen der Theorie hätten in Frage stellen können, wurden dann auch vor allem von anderen Autoren durchgeführt. Und diese wurden dann auch fündig (z. B. Wilkening, 1978; Donaldson, 1982). Wenn man die einzelnen Resultate ganz kurz auf einen Nenner zu bringen versucht, dann zeigten diese Untersuchungen vor allem, dass Kinder die meisten Aufgaben viel früher bearbeiten können, wenn man sie weniger abstrakt formuliert, als dies Piaget getan hat. Herzog kritisiert dann an Piaget auch, dass seine Resultate für eine Pädagogik nur beschränkt brauchbar sind, da das einzige Ziel der von ihm beschriebenen Entwicklung die formalen Operationen sind (Herzog, 1991). Zudem können ganz kleine Kinder offensichtlich wesentlich mehr, als Piaget ihnen zutraut (Meltzoff, 1981).

Gleichgültig, für wie empirisch gesichert man Piagets Stufen und Entwicklungsverläufe hält, bietet sein Modell im weiteren das Problem, dass seine Beschreibung der Lernprozesse äusserst vage ist. Das Bild von fortschreitender Assimilation und Akkomodation ist sehr allgemein und über den Hinweis hinaus, dass man eine Akkomodation provozieren kann, indem man ein Schema mit einer nicht assimilierbaren Situation konfrontiert, lässt sich daraus kaum etwas ableiten.

Aus der intensiven Auseinandersetzung mit Piaget resultieren für meine Arbeit also vor allem ein paar allgemeine Ideen:

Wissen/Lernen

  • Wissen entsteht in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt. Die aufgebauten Modelle sind dazu da, den Austausch zwischen Subjekt und Umwelt auf bestimmte Ziele hin zu steuern.

Lehren

  • Eine Möglichkeit einen Lernprozess anzustossen, besteht darin, ein Schema, ein Modell mit einer Situation zu konfrontieren, die es nicht assimilieren kann.
  • Aus dem logische Aufbau einer wissenschaftlichen Disziplin wie etwa der Mathematik lässt sich nicht unbedingt ableiten, in welcher Reihenfolge die entsprechenden Inhalte gelernt werden müssen. Dass die Mengenlehre innerhalb der Mathematik Grundlage der Zahlenlehre ist, heisst nicht, dass sie zuerst gelernt werden muss.

4. Literatur

  • Donaldson, M. (1982). Wie Kinder denken. Bern, Huber.
  • Herzog, W. (1991). Piaget im Lichte der Phänomenologie: Eine pädagogische Erkundung. In: Herzog, M. & Graumann, C. F.: Sinn und Erfahrung, Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften. Heidelberg, Asanger: 288-312.
  • Meltzoff, A. N. (1981). Imitation, intermodal coordination and representation in early infancy. In: Butterworth, G.: Infancy and Epistemology: An Evaluation of Piagets Theory. Brigthon Sussex: 85-114.
  • Piaget, J. (1971). Psychologie der Intelligenz. Olten.
  • Piaget, J. (1973 ). Einführung in die genetische Erkenntnistheorie. Frankfurt a. M.
  • Piaget, J. (1974). Biologie und Erkenntnis. Frankfurt a. M.
  • Piaget, J. (1976). Die Äquilibration der kognitiven Strukturen. Stuttgart, Klett.
  • Piaget, J. & Inhelder, B. (1971). Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. Stuttgart.
  • Wilkening, F. (1978). Beachtung und Addition zweier Dimensionen: Eine Alternative zu Piagets Zentrierungsannahme. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 10: 99-102.