„Denken als Kommunikation“ von Anna Sfard

Quelle: Sfard, A. (2008). Thinking as communicating: human development, the growth of discourses, and mathematizing. Cambridge: Cambridge University Press.

Sfard geht von der Grundidee aus, dass Denken Kommunikation ist – Kommunikation mit anderen aber auch Kommunikation mit sich selbst. Das spezielle an der menschlichen (sprachlichen) Kommunikation und damit an bestimmten Ausschnitten menschlichen Denkens ist die potentielle Rekursivität dieser Kommunikation: Menschen können „Erzählungen“ zum Thema anderer „Erzählungen“ machen (S. 103).

Diese Rekursion kann beliebig fortschreiten, das heisst Erzählungen über Erzählungen können ihrerseits wieder Thema weiterer Erzählungen werden. Damit solche Gebäude rekursiv aufeinander aufbauender Kommunikationen überhaupt handhabbar sind, werden die unteren Ebenen objektiviert, d.h. die entsprechenden Kommunikationen werden zu abgetrennten Objekten gemacht.

Sfard führt diese Ãœberlegungen vor allem anhand der Mathematik aus – unter anderem, da Mathematik eine extrem rekursive Kommunikation mit vielen Ebenen und Objektivierungen ist. Die unterste Ebene ist hier Kommunikation über das Zählen von Objekten: „Egal wie ich es anstelle, wenn ich bei diesem Haufen von Steinchen ‚eins, zwei, drei, vier, …‘ zähle, ende ich immer bei fünf.“ Dieses „Auf-Fünf-Zählen“ wird dann im Laufe der weiteren Entwicklung der Mathematik (historisch und bei jedem Individuum) zum Objekt, zur Zahl „5“ gemacht, das auf der nächsten Kommunikationsebene genutzt werden kann: „5 + 3 ergibt 8“.

Sfard unterscheidet drei Arten von mathematischen Kommunikationen:

  1. Taten (deeds): Handeln um reale Objekte zu verändern (z.B. Geld herausgeben)
  2. Explorationen: Entwicklung von neuen, durch die Kommunikationsgemeinschaft akzeptierten (endorsed) Erzählungen (narrative) (z.B. „3/4 ist grösser als 3/5″)
  3. Rituale: Teilnahme an Kommunikationen um soziale Akzeptanz durch die Kommunikationsgemeinschaft zu erfahren (z.B. Abzählspiele spielen).

In Begriffen des IML gedacht, beschreibt Sfard vor allem das Funktionieren des deklarativen Systems. Einige Punkte lassen sich aber auch als Bezüge zu anderen Systemen interpretieren:

Prozedurales bzw. sensomotorisches System: Sie merkt an, dass häufig realisierte Prozeduren/Kommunikationen „verkörperlicht“ (embodied) werden: „It is noteworthy that frequently repeated realization procedures may become embodied and automated. In the present context, embodiment means that as in swimming, bicycling, or typing, the necessary scanning and physical actions are remembered ‚by our bodies‘ as a series of body physical movements, rather than ‚by our minds‘ as a series of discursive moves.“ (S. 157)

Situatives System: Sfard betont an vielen Stellen, dass Kommunikationen „situiert“ sind. Zu jeder Kommunikation gehört nicht nur ein Wissen darüber, wie sie abzulaufen hat, sondern auch wann (unter welchen Umständen ist eine bestimmte Kommunikation angebracht und unter welchen Umständen hat sie ihr Ziel/Zweck erreicht). Durch dieses „Wann“ sind die Kommunikationen situiert. Es ergibt sich aus den deeds, aus denen die Kommunikationen herauswachsen (S. 255). Die zu Objekten gemachten Kommunikationen (diskursive Objekte; D-Objekte) entsprechen ihren Realisierungsbäumen, d.h. den Bäumen von rekursiv verschachtelten Kommunikationen, an deren Spitze sie stehen. Sfard nimmt an, dass die tatsächliche Realisierung eines solchen Baumes situationsspezifisch ist, d.h. dass für eine bestimmte Person in gewissen Situationen bestimmte Äste im Realisierungsbaum blockiert sein mögen, welche für sie in einer anderen Situation offen sind (S. 189). Damit ist die Bedeutung dieser D-Objekte situationsspezifisch.

Natürlich entspricht diese Situiertheit nicht zwingend einen situativen System, wie es im IML angenommen wird. Interessant ist aber, dass Sfard an verschiedenen Stellen zu vergleichbaren Schlüssen kommt, wie sie sich auch aus dem IML ergeben.

Reflektionsleitende Funktion des deklarativen Systems: Die metadiskursiven Regeln, welche das Denken leiten, sind im Allgemeinen nicht handlungsleitend sondern reflexionsleitend. „… more often than not the rules of discourse do not tell us what to say or think any more than the rules of traffic tell us where to go. If anything, they make us aware of what would not be a proper thing to do in a given situation. By constraining rather than determining, metadiscursive rules make communication possible just as traffic regulations make collision-free traffic possible. This enabling effect results from the fact that the rules eliminate an infinity of possible discursive moves and leave the interlocutors with only a manageable number of reasonable options.“(S. 206)

Zusammenspiel von Erfahrung und Instruktion: Man kann nicht erwarten, dass Kinder neue Konzepte selbst aus deeds heraus entdecken, d.h. ausgehend von deeds (Kommunikationen) zu geeigneten Explorationen (Kommunikationen) kommen. Sie lernen, wenn sie damit konfrontiert werden, dass und wie andere die neuen Konzepte brauchen, d.h. indem sie an entsprechenden Kommunikationen als Novizen teilnehmen (S. 246).

Weit über das IML hinaus geht aber natürlich Sfards detaillierte Beschreibung davon, wie Strukturen im deklarativen System entstehen. Wesentliche Punkte sind hier:

  • Lernen (im deklarativen System) ist das Hineinwachsen in Kommunikationen.
  • Versucht eine Person in eine Kommunikation hineinzuwachsen, die eine Rekursionsebene über der liegt, in der sie bisher zuhause war, entsteht ein Konflikt. (S.258)
  • Dieser Konflikt kann nicht durch „Verstehen“ gelöst werden, sondern nur durch das Hineinwachsen in den Gebrauch der Kommunikation. Unter Umständen ist es dazu notwendig, dass die Kommunikation zuerst nur als Ritual gebraucht wird. (S. 250)
  • Damit jemand sich auf diesen Lernprozess einlässt, muss er/sie mit der Haltung an die noch ungewohnte Kommunikation herangehen, dass diejenigen, welche diese Kommunikation nutzen, einen guten Grund dafür haben müssen und dass es sich deshalb lohnt, sich auf den Prozess einzulassen. (S. 287)