Eine kooperative Lernaufgabe

Ein erster Ansatz aus längst vergangener Zeit

Im Sommer 1985 hatten wir (Hansruedi Kaiser und Beat Keller) die erste Spielwelt entworfen, auf der aufbauend dann die Projekte mit DEPP und ILSY entstanden. Damals schrieben wir:


Wichtige Ãœberlegungen bei der Kreation einer Spielwelt

Eine Spielwelt, in der sich sowohl reale Personen wie simulierte Lerner bewegen sollen, muss folgenden Anforderungen genügen:

  1. Das Spiel muss genau jene kognitiven Prozesse fordern, die untersucht werden sollen.
    • Keine Information implizit einbauen, die explizit erarbeitet werden sollte.
    • Dafür sorgen, dass sich die Aufgabe im Hinblick auf die zentralen Prozesse beliebig komplex gestalten lässt.
  2. Alle Aufgaben, die „uninteressante“ kognitive Prozesse fordern, müssen praktisch trivial sein.
    • Information und Wissen, das vorausgesetzt wird, explizit geben.
    • Informationseinheiten, die leicht erkannt und unterschieden werden müssen, eine eindeutige Form geben.
  3. Die „interessanten“ kognitiven Prozesse müssen transparent ablaufen.
    • Dafür sorgen, dass Versuchspersonen im Spiel häufig von aussen feststellbare Handlungen durchführen müssen, die als Kontrollpunkte für die ablaufenden Prozesse dienen können.
  4. Das Spiel muss für Versuchspersonen interessant und anregend sein.
  5. Alle „uninteressanten“ Prozesse sollten leicht programmierbar sein.
    • Wahl von normierten Spielsprachen (sofern sprachliche Kommunikation vorkommt)
    • Wahl von regelmässigen Welten (Schachbrettmuster etc.)

Phänomene, denen eine Spielwelt als Lernaufgabe Rechnung tragen sollte

Ziel ist es, eine Spielsituation zu schaffen, in der sich Lernprozesse die praktisch ohne Voraussetzungen beginnen (elementare Lernprozesse), in einer beliebig komplexen Umgebung betrachten lassen. Zu diesem Zweck wurde zuerst ein Katalog von Phänomenen erarbeitet, wie sie beim Lernen zu beobachten sind:

  1. Wahrnehmungssystematisierung : Der Lerner ist einem kontinuierlichen Strom von „Daten“ ausgesetzt, mit denen er etwas anfangen muss. Diese stammen z.T. aus einer Umwelt, die er nicht beeinflussen kann.
  2. Inter-Modale-Koordination : Es existieren mehrere Input- und Output-Kanäle.
  3. Exploration unstrukturiert : Es existiert unabhängig von irgendwelchen Eingriffen durch einen „Tutor“ eine Umwelt, die der Lerner beeinflussen kann.
  4. Exploration strukturiert : Es existiert ein Teil Umwelt, der vom „Tutor“ und vom Lerner beeinflusst werden kann.
  5. Differenzierung symbolisch – nichtsymbolisch : Sowohl der Input z. B. der autonomen Umwelt, wie der symbolische Input vom Tutor gehen über die gleichen Kanäle.
  6. Man kann die Valenz gewisser Inputs lernen lassen, oder man kann von Anfang an dem Lerner mitteilen, dass ein gewisse Inputs „Belohnung“ bzw. „Bestrafung“ bedeuten.
  7. Hineinwachsen in vorgegebene Konzepte : Macht man das zu Erlernende genügend komplex, besteht kaum eine Chance, dass der Lerner dies ohne Hilfe erlernt. Für den Tutor ist die Welt aber schon vorstrukturiert, d.h. seine Hilfe wird sich also schon immer in Konzepten ausdrücken, die der Lerner erst lernen muss.
  8. Eigenaktivität – Hineinwachsen : Für den Tutor stellt sich die schwierige Frage, wie er bei seiner Hilfe an dem anknüpfen kann, was der Lerner schon gemerkt hat.
  9. Voraussetzung : Der Input ist nicht vollständig unstrukturiert, d.h. die „Daten“ haben schon quasi „hardwaremässig“ vorgegebene Eigenschaften.

 Die definitive Spielaufgabe

Die folgende Situation ist ein Versuch eine Situation zu schaffen, die keines dieser Phänomene schon von vornherein ausschliesst.

Die Welt, in der sich der Lerner befindet, ist 5×5 Felder gross. Sie ist zu einem Torus geschlossen, d.h. wenn man sich in der Figur nach oben aus dem Bild bewegt, kommt man von unten wieder hinein. Ebenso kommt man von rechts wieder zurück, wenn man das Bild nach links verlässt. Die Welt hat also keine wahrnehmbaren Grenzen. Irgendwo in dieser Welt liegt ein Ball und steht ein Korb. Der Korb ist fest in seinem Feld verankert, der Ball kann von Feld zu Feld mitgenommen werden.

Der Lerner verfügt über ein Auge und eine Hand. Mit dem Auge sieht er einen Ausschnitt der Welt von 3×3 Feldern Grösse. Er kann dieses Auge in alle vier Richtungen bewegen. Mit der Hand spürt er den Ball. Er kann die Hand öffnen und schliessen. Schliesst er sie, wenn sie sich im selben Feld wie der Ball befindet, hat er diesen ergriffen und der Ball folgt der Hand bis diese wieder geöffnet wird. Der Einfachheit halber bewegt sich die Hand immer mit dem Auge mit, d.h. sie befindet sich immer im mittleren Feld des Gesichtsfeldes.

Des Lerners Aufgabe besteht darin, den Ball zu packen und in den Korb zu legen, d.h. in das Feld zu transportieren, in dem sich der Korb befindet. Diese Aufgabe wird dadurch etwas erschwert, dass der Ball nicht ruhig liegt, sondern ab und zu in eines der angrenzenden Felder springt. Zu Beginn weiss der Lerner so gut wie nichts. Er weiss nur, dass er verschiedene Bewegungen ausführen kann (inklusive einer Nullbewegung, die keine Wirkung hat), hat aber keine Ahnung, was sie bewirken. Zudem kann er eine bereits einmal angetroffene Wahrnehmungskonstellation (z. B. „der Ball ist oben links sichtbar, kein Korb in Sicht“) wiedererkennen und er weiss, wie die Zielsituation aussieht (Ball und Korb im mittleren Feld des Gesichtsfeldes). Er kann aber die einzelnen Wahrnehmungskonstellationen nicht zerlegen, d.h. er weiss nicht, dass „Ball oben links, kein Korb“ und „Ball oben links, Korb oben rechts“ in der Position des Balls übereinstimmen.


Zusätzliche Überlegungen fast zwanzig Jahre später

Ergänzung der Liste der Lernphänomene

Der Fokus lag damals auf einem isolierten Lerner, der die Bewältigung einer Aufgabe in genau der Umgebung erlernt, in der er die Aufgabe auch bewältigen muss. Die eigene Arbeit zur Frage des Transfers von Lernen und die in der Zwischenzeit angelaufene Diskussion zur „Situiertheit“ von Wissen und Lernen machen es notwendig, die Liste noch um einige Punkte zu verlängern.

  1. Transfer: Manchmal sollte der Lerner etwas, das er in einem Kontext gelernt hat, auch in einem anderen Kontext gebrauchen können. Ein solcher Transfer scheint zwar nicht immer einfach zu sein, er kommt aber vor.
  2. Effizienz: Die Art, wie der Lerner eine Aufgabe löst, wenn er diese zu beherrschen gelernt hat, darf nicht beliebig aufwändig sein. Je nach Aufgabe und Kontext gibt es gewisse Rahmenbedingungen wie Zeitlimiten, Belastung durch parallele Aufgaben, die eingehalten werden müssen.
  3. Kooperation: Menschliche Lerner sind so gut wie nie in der Situation eines Robinson. Die Aufgaben, deren Bewältigung sie zu erlernen haben, sind in den meisten Fällen Aufgaben, die in Interaktion oder Kooperation mit anderen Menschen zu bewältigen sind (Lave & Wenger, 1991). (Ausnahmen bilden wohl nur allererste motorische Lernprozesse wie greifen, stehen und gehen. Später dann vielleicht die rein motorische Beherrschung von Werkzeugen und Sportgeräten, wobei diese allerdings bereits Produkte eines kulturellen Prozesses sind und in einem kulturell geprägten Umfeld eingesetzt werden).

 Eine neue Lernwelt

Als Konsequenz aus der erweiterten Liste der Phänomene sollte die Lernwelt um folgende Punkte erweitert werden:

  • In der Welt befinden sich mehrere Lerner, welche die selbe Aufgabe kooperativ angehen. Ihr Wissenstand ist unterschiedlich.
  • Lernziel ist nicht (nur) die Bewältigung der Aufgabe im Lernkontext, sondern die Bewältigung auch in anderen (verwandten) Kontexten mit denselben oder anderen Mitspielern.
  • Die Rückmeldung aus der Umwelt enthält auch Informationen darüber, ob die Bewältigung effizient genug erfolgt.

Die Aufgabe, vor der ein Schaf steht, das im Spiel „Wolf und Schafe“ lernen soll, den Wolf einzukreisen, dürfte in etwa diesen Anforderungen entsprechen. Gleichzeitig stellt das Spiel eine Spielwelt im obigen Sinn dar.

Literatur

  • Lave, J., & Wenger, E. (1991). Situated Learning. Legitimate peripheral participation. Cambridge: Cambridge University Press.