Die Wirkungskaskade

Kaskade_Berufsbildung4 Probleme im Gebrauchskontext sind individuell

Bei allen Ansätzen, bei der sich die Lehrpersonen selbst ein Bild vom Gebrauchskontext verschaffen, ist das gewonnene Bild allerdings ein Bild aus Sicht eben dieser Lehrpersonen und erfasst nicht zwingend automatisch die Probleme, mit denen die Lernenden im Gebrauchskontext konfrontiert sind. Es lassen sich verschiedene Phänomene beobachten:

  • Die Lehrpersonen sehen nicht oder erinnern sich nicht, welche Probleme sich im Gebrauchskontext stellen: Der Hauptgrund dafür ist, dass das im Gebrauchskontext wichtige „besondere praktische Vermögen“ (Neuweg 2011, s.o.) oft aus implizitem Wissen besteht. Kommt die Lehrperson als Beobachter in den Gebrauchskontext, ist dieses implizite Wissen nicht einfach zu erkennen oder zu erfragen. Und ist die Lehrperson selbst im Gebrauchskontext zur Expertin geworden, dann sind auch bei ihr die dort gemachten Lernerfahrungen zum impliziten Wissen geronnen und ihr selbst nicht mehr so einfach zugänglich.

Ein Beispiel: Zumindest eine der Autorinnen der oben erwähnten Studie von (Prediger, et al., 2015) hat Erfahrungen als Mathematiklehrerin. Sie kennt also den Gebrauchskontext der Lehrpersonen. Im Artikel erhält man aber den Eindruck, dass es ihr nicht bewusst war, dass Lehrpersonen (also wohl sie selbst auch) in einem solchen Moment Bedenken haben, den Rest der Klasse aus den Augen zu verlieren.

  • Die Lehrpersonen reagieren „schulisch“ auf beobachtete Probleme: Auch wenn die Lehrperson die typischen Probleme ihrer Lernenden kennt, ist damit die Frage noch nicht beantwortet, wie sie darauf eingehen soll. Es lässt sich immer wieder beobachten, dass auch Lehrpersonen, welche den Gebrauchskontext sehr gut kennen im Schulungskontext reflexartig in die Schubladen der Schulfächer greifen, ohne wirklich eine reflektierte Verbindung zu ihren Erfahrungen aus dem Gebrauchskontext herzustellen.

Ein Beispiel: Ein Fachlehrer für Dachdecker möchte das Thema Rechnen/Mathematik in seinem Unterricht auf die Probleme beziehen, welche seine Lernenden auf der Baustelle real antreffen. Er überlegt sich lange, bis er eine Situation findet, in der tatsächlich gerechnet wird: Um ein Flachdach abzudichten wird Dachpappe benötigt. Bevor man am Morgen zur Baustelle fährt, muss man kurz überschlagen, wie viele Rollen Dachpappe man für heute mitnehmen will. Der Lehrer analysiert die Situation für sich, kommt zum Schluss, dass es um Flächenberechnungen geht und repetiert mit seinen Lernenden daher das Umrechnen von mm2 bis km2.

  • Die Lernenden sind mit anderen Problemen beschäftigt: Will die Lehrperson die typischen Probleme ihrer Lernenden von sich aus angehen, ist die Gefahr gross, dass die Lernenden momentan gerade mit einem anderen Problem beschäftigt sind, als das, welches die Lehrperson angehen möchte. In solchen Fällen haben die Lernenden mühe auf das Angebot der Lehrperson einzugehen, auch wenn sie zu einem anderen Zeitpunkt sehr froh um die entsprechende Hilfestellung wären.

Ein Beispiel: Eine schulinterne Weiterbildung in einer Schule für Dentalhygiene. Der Fokus der Weiterbildung wären didaktische Fragen zur Verbindung von Theorie und Praxis. Die beteiligten Lehrpersonen sind aber völlig von den Schwierigkeiten absorbiert, die sich daraus ergeben, dass ausnahmsweise in dieser reinen Frauenwelt in einer Klasse ein einziger männlicher Lernender sitzt. Erst nachdem dieses Problem gemeinsam in mehreren Sitzungen ausführlich besprochen wurde, wird der Weg frei, für die eigentliche Thematik der Weiterbildung.

  • Die Probleme der Lernenden sind äusserst individuell: Das „besondere praktische Vermögen“ wie es (Neuweg, 2011) nennt, das die Lücke zwischen Regel und Situation schliesst, ist nicht formalisierbar, denn sonst könnte man es ja in eine Regel fassen. Entsprechend können sich Lehrpersonen nur begrenzt auf die Schwierigkeiten vorbereiten, welche ihre Lernenden im Gebrauchskontext haben werden, und es werden immer wieder völlig überraschende, nie geahnte Probleme auftreten.

Ein Beispiel: Die Lehrperson stellt ein dreidimensionales Modell des Aufbaus eines Haares in die Mitte einer Gruppe Lernender, die in der Ausbildung zum Friseur sind. Sie fordert die Lernenden auf, auf einem Blatt Papier festzuhalten, was sie am Modell erkennen können. Ein Lernender scheint verwirrt und die Lehrperson fragt ihn, ob er verstanden habe, was sie von ihm erwartet. Der Lernende zeigt auf die beiden jungen Frauen, die neben ihm sitzen: „Ich soll die beiden beschreiben?“. Die Lehrperson braucht einen Moment, bis sie begreift, dass der junge Mann daran gescheitert ist, dass für ihn ein „Modell“ eine Person ist, die sich von ihm zu Ausbildungszwecken die Haare schneiden lässt.

Zusammengefasst lässt sich also sagen:

  • Schulungskontext und Gebrauchskontext sind zwei verschiedene Kontexte und es ist nicht ganz einfach vorherzusehen, was für Schwierigkeiten die Lernende im Gebrauchskontext antreffen werden, so dass man bereits im Schulungskontext darauf eingehen könnte.
  • Sorgfältige Curriculumsentwicklung, Didaktische Analysen und Besuche von Lehrpersonen im Gebrauchskontext sind sicher sinnvolle Massnahmen, um das Geschehen im Schulungskontext auf den Gebrauchskontext auszurichten.
  • In letzter Konsequenz erfasst man damit aber nicht mit Sicherheit die Schwierigkeiten, mit denen die gerade jetzt im Schulungskontext anwesenden Lernenden gerade jetzt oder nächste Woche oder dann, wenn sie das Gelernte gebrauchen möchten, zu kämpfen haben.

Die Frage stellt sich daher, wie sich Lehrpersonen über diese aktuellen Schwierigkeiten ihrer Lernenden informieren können.

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